Milch und ihre Verdauung       (revidierter Entwurf Herbst 1994)

 

Susanna Stoll

 

Gerade weil wir in der Schweiz eine jahrtausend alte Milchkultur haben, und die verschiedenartigen Verarbeitungsformen von Milch kaum aus unserer täglichen Nahrung wegzudenken sind, möchte ich den Verdauungsproblemen etwas nach-gehen, die sehr viele Kinder und Erwachsene mit der Milch haben.

Mittlerweile betrifft dies nicht nur eine kleine Minderheit der Gesamtbevölkerung, sondern Millionen von Allergikern sollten bei irgendwelchen Allergien immer zuerst  an Milch und Milchprodukte denken. So gehören doch die meisten von uns irgendwie zu diesen Betroffenen: (Um 1990) seien 1-13% auf die Eiweisse (Proteine) der Kuhmilch empfindlich(2), ausserdem in Dänemark 10%, in Deutschland 15% auf Milchzucker (Lactose) allergisch (1),  Je genauer man jedoch hinsieht, umso eher ist man geneigt, Werthmann zu glauben, der  auf 30% mit einer manifesten und eine Mehrzahl der anderen mit einer latenten Milch-Ueberempfindlichkeit kommt. (3)

 

Lesen Sie diesen Artikel bitte möglichst unbeschwert. Er enthält viele Fremdwörter und Fachausdrücke. Wenn Sie diese nicht alle verstehen, lesen Sie einfach darüber hinweg; ich brauche diese Begriffe, um auch die umgangssprachlicheren Zwischen-texte zu belegen.

 

 

Milch ist ein  äusserst komplexes Nahrungsmittel: Sie besteht aus 87 % Wasser, ferner festen Bestandteilen (Mineralstoffen), Eiweissen (Proteinen), Kohlehydraten (Milchzucker, v.a. Lactose) und Fett, also allem, was ein neugeborener Säuger braucht, und dies sogar in idealer Zusammensetzung. Die Errungenschaft, die Nachkommen durch Säugen über die erste, heikelste Entwicklungsphase hinweg zu ernähren, ist etwa 200 Mio. Jahre alt. (2)

 

Die drei Hauptbestandteile (Milchproteine, Milchfett und Milchzucker) müssen alle im Magen-Darmtrakt durch Enzyme aufgeschlossen werden, das heisst möglichst vollständig in ihre Bausteine zerlegt, bevor sie vom Körper aufgenommen und verwertet werden können. Damit dieser komplexe Vorgang reibungslos abläuft, müssen Nahrung und Enzyme genau aufeinander abgestimmt sein, wie der Schlüssel auf das Schloss. Ausserdem ist das optimale Zusammenspiel aller an der Verdauung beteiligten Organe und ihrer Sekrete unerlässlich: Mund, Magen, Pankreas (der die meisten Enzyme produziert), alle Darmabschnitte mit ihrer je besonderen Funktion, Leber, Galle und schliesslich der Niere.

 

Muttermilch

 

Da Milch in von Natur aus als arteigene Milch gedacht ist, möchte ich vorab auf die Eigenschaften und Verdauung der Muttermilch eingehen. Ich setze hier die gemeinhin bekannten und gepriesenen Vorzüge des Stillens voraus.

Naturgemäss ist eine Stillzeit von mindestens 9 Monaten vorgesehen, denn der "Fettpfropfen" an den Wangen des Säuglings bildet sich erst nach etwa 12 Monaten zurück. Die Notwendigkeit für so langes Stillen liegt im erst allmählichen Ausreifen der Verdau-ungsorgane, die sich bei verfrühter Belastung durch nicht zu bewältigende Nahrungsmittel gar nicht voll entwickeln und früh Schaden nehmen können. (3) Der Mensch ist auch der einzige Säuger, der sich Zugang zu artfremder Milch verschafft hat. (Hunde, Katzen, Igel kommen nur durch Menschen dazu, und nicht ohne Schaden. Sie bekommen Durchfall und die Igel z.B. riechen ihre Futtertiere nicht mehr und bleiben damit vom Menschen abhängig.)

 

Artfremdes    Eiweiss (wie etwa von Kuhmilch) setzt neben den entsprechenden Enzymen auch ein voll                                                                                               funktionsfähiges Immunsystem voraus (4), (2)

Lactose (Milchzucker) und Milchfett müssen durch  die Enzyme eines intakten Dünndarms gespalten werden (Lactase und Glycosyl-Ceramidase) (5) - später übernimmt die Bauchspeicheldrüse (Pankreas) die Verdauung der Kohlenhydrate bzw. die Leber die der Fette.

Die Bauchspeicheldrüse ist erst mit etwa neun Monaten ausgereift. (3). Die Nieren vermögen überschüssige Mineralstoffe (Kalzium, Magnesium Phosphor, die in Kuhmilch noch in viel grösseren Mengen enthalten sind als in Menschenmilch), nicht auszuscheiden, was zu Vergiftungen führen würde. (6)

 

Muttermilchproteine

Die Proteine sind immer arteigen, ob pflanzlich, tierisch oder menschlich. Sie werden in der Verdauung zerlegt in Aminosäuren, aus denen sich u.a. die Muskeln aufbauen. Die Zerlegung der Proteinmoleküle ist der schwierigste Teil der Verdauungsarbeit.

 

Frauenmilch enthält gegenüber der Kuhmilch mehr Molkeproteine als Casein, ganz besonders die Kolostralmilch (gelbe Anfangsmilch): Die vielen Immunglobuline (Antikörper), hauptsächlich das Immunglobulin A (IgA) liefert die Mutter dem Kind zur Infektabwehr mit (6), denn dieses kann das IgA erst später zunehmend in den Krypten der eigenen Darmwand selbst bilden. (3) Das viele Lactoferrin entzieht krankmachenden Keimen Eisen und dient auf diese Weise ebenfalls der Infektabwehr. (6)

Die spätere Milch enthält dann weniger Protein  dafür mehr Fett und Lactose. Da das Fett vorwiegend aus dem Depotfett der Mutter stammt, ist Stillen eine Art Entschlackungskur, mit der jedoch gleichzeitig die ganzen angesammelten Schadstoffrückstände an das Kind weitergegeben werden! Die Werte liegen deutlich höher als die zulässigen Höchstwerte für Kuhmilch. (6)

Dennoch wiegen die Vorzüge des Stillens die Uebergabe dieser toxischen

Fremdstoffe immer noch bei weitem auf. Allerdings begegnen wir ihnen womöglich bei unseren verhaltensauffälligen Kindern mit ihren Blei-, Quecksilber- und anderen Belastungen später wieder.

 

Das Aminosäuremuster der Muttermilch enthält mehr Cystein als Methionin

(wesentlich für den Eiweissaufbau und die Fettverdauung), was der Verdauung des Säuglings besser angepasst ist. (6)

 

Rennin (=Chymosin) bewerkstelligt die Gerinnung der Milch im Magen und entspricht dem Labferment der Kälber. Es ist besser geeignet, bestimmte Milchproteine zu spalten als das Pepsin, das später diese Rolle übernimmt. Der Uebergang findet irgendwann im ersten Lebensjahr statt.(1)

 

 

Durch Stillen gelangt kaum artfremdes Eiweiss in den Körper des Säuglings, was diesem eine frühe Abwehrreaktion erspart, es sei denn, die Mutter sei selbst allergisch und gebe ihre eigenen Antigene (aus ihrer unvollständig gespaltenen Nahrung) über die Blutbahn und die Milch an das Kind weiter. (Siehe Abschnitt über Kuhmilch)

 

Muttermilch-Kohlehydrate

Die Kohlehydrate der Muttermilch sind Lactose (42%),

Galactose,

Fructose,

Glucosamine,

Neuraminosäure und der

Bifidusfaktor. (6),(11)

Ein gestilltes Neugeborenes besitzt nach 24 Std. eine perfekte Besiedelung des Darmes mit Bifidus-bakterien. (2)  Diese schaffen ein säuerliches Milieu im Darm (senken den pH-Wert), was die Vermehrung krankmachender Keime erschwert.

Die Lactose, ein Zweifachzucker (Disacharid) muss durch das Ferment Lactase (B-Galaktosidase) im Dünndarm in Glukose und Galaktose gespalten werden. Das Enzym Lactase wird normalerweise von allen Säugern während der Still

zeit in der Bauchspeicheldrüse gebildet. (Karlson, Biochemie) ,(7)

 

Die Lactase-Aktivität reduziert sich bei der Entwöhnung und kann durch weiteren Verzehr von laktosehaltigen Lebensmitteln kaum re-aktiviert werden. (5), (1) Dies gilt für praktisch alle Völker der Erde, sowie für die tierischen Säuger. Die Wirksamkeit der verbleibenden Lactase scheint wesentlich vom pH-Wert des Dünndarms abhängig zu sein, der sich entsprechend der übrigen Nahrung verändert, also für die Lactase z.B. zu sauer wird, wie etwa im Zusammenhang mit Fleischgenuss.(7)

Eine weitverbreitete "Laktosetoleranz" haben laut Literatur die Europäer nördlich der Alpen (85-95%). Sie wird genetisch/ent-wicklungsgeschichtlich erklärt, d.h.: In einer Kultur, in der das ganze Leben lang Milch konsumiert wurde, konnten bei Lebensmittelknappheit, z.B. im Winter, nur

diejenigen überleben und sich fortpflanzen, die auch über die Stillphase

hinaus genügend Lactase zu produzieren vermochten. Dies ist unter den

farbigen Völkern eine grosse Ausnahme (5), so z.B. die Massai in

Afrika. An die Lactose-Gefahr bei einer Insuffizienz der Empfänger sollte besonders bei Milchpulverlieferungen in Hungergebiete der dritten Welt gedacht werden. (5) Und wie steht es da mit der Milcheiweiss-Verträglichkeit? (S.St.)

 

Die Fähigkeit, das Enzym Lactase zu bilden, kann durch Darmerkrankungen vorübergehend verloren gehen und sich nach der Genesung wieder einstellen (8), so etwa bei einer Darmgrippe.

Damit wäre die allmählich weitverbreitete Milchunverträglichkeit bei uns "Europäern nördlich der Alpen" eher eine Folge gestörter Darmtätigkeit, wie dies auch der so häufige Pilzbefall z.B. mit Candida u.a.m. deutlich macht, und nicht eine grundsätzliche Unfähigkeit, Lactase weiterhin zu produzieren. (Oder haben auch bei Darminfekten die Probleme mit den Proteinen nicht mindestens einen ebenso grossen Anteil wie die Lactose?)

 

Ungespaltene Lactose ist im Dickdarm Nahrung für die gutartigen Kolibakterien, die hier ein (milch)saures Milieu herstellen, was die Vermehrung von giftigen Keimen behindert. (9) Zuviel Lactose im Dickdarm bewirkt jedoch ein Ueberhandnehmen der Kolibakterien, die zu Blähungen und wässerigem Durchfall führen. (1), (7)  Van de Kamer (4) nennt dies "Gärungsdiarrhöe", die viel zu viele Milchsäurebakterien auch im Stuhl enthält und immer auf eine Stö-rung im Zuckerabbau zurückgeht.

Diese Symptome zeigen sich am extremsten bei den ganz wenigen Men-schen, die infolge einer Erbkrankheit (Galaktosämie) zu wenig oder überhaupt keine Lactase bilden können, und zwar schon in den ersten Lebenstagen und tragischerweise auch für die Muttermilch: eine Lactoseintoleranz, die für das Gehirn schwerwiegende Folgen hat, wenn die lactosefreie Diät nicht strikte, auch für kleinste Mengen, eingehalten wird. (Woher bekommen diese Kinder den Zucker für ihre Myelinbildung? Etwa durch weissen Rübenzucker? Und was für Schäden hinterlässt dieser? S.St.)

Lactose wird nämlich zur Bildung der Nervenzellen (Myelin) v.a. für das  rasch wachsende Gehirn in grossen Mengen benötigt, weshalb die Menschenmilch doppelt soviel Lactose enthält wie die Kuhmilch. (Das Kalb braucht viel mehr Mineralien für sein Skelett, damit es sofort aufstehen und mit der Herde mitgehen kann.) 

Insofern stimmt die Behauptung, dass das Gehirn Zucker braucht -Frage ist bloss welchen und in welcher Qualität!!

Bereits um die letzte Jahrhundertwende wurden in Berlin Säuglinge mit der "Keller'schen Malzsuppe" aus einem lebensbedrohlichen Zu-stand herausgefüttert (2), womit allerdings nicht nur der Milchzucker, sondern auch der Eiweiss-Unverträglichkeit Rechnung getragen wurde. (Maltose = Getreidezucker)

Ueber mögliche spätere Folgen (eines möglichen Proteinmangels) bei diesen Kindern schweigt jedoch die Geschichte.

 

Der lange Abschnitt über Muttermilch und die Verdauung des Säuglings zeigt indirekt, wie unreif dessen Verdauungsorgane für Normalkost und viele Babyfütterungsgewohnheiten noch sind. Der Darm ist das erste voll entwickelte Verdauungsorgan und muss für viele andere noch unreife Organe Ersatzfunktion leisten. Deshalb ist seine Gesundheit und volle Funktionsfähigkeit besonders in der Säuglingszeit von grösster Wichtigkeit.

 

Artfremde Milch

 

Im Mengenvergleich der Bestandteile sieht die Milch der bekanntesten Säuger wie folgt aus:

 

                        Protein %          Lactose %              Fett %

Mensch         1,06                   7,1   (10)                  4,5          (11)

Pferd              1,8-2,0              6,0-7,2                     1,2-1,3     (7)

Schaf             4,2-7,2              4,2-5,6                     3,3-9,5     (7)

Ziege             2,8-3,2              4,0-4,8                     3,1-4,0     (7)

Rind               3,264                4,7    (10)                  3,7          (11)

 

Aus dieser Tabelle ist ersichtlich, dass die Ziegen- und Pferdemilch im Verhältnis ihrer Zusammensetzung der menschlichen am ähnlichsten sind. Das Eiweiss bleibt jedoch Ziegen- oder Pferdeeiweiss, und es kommt darauf an, ob das Immunsystem des jeweiligen Menschen damit zurechtkommt, d.h. entsprechende harmlose

Antikörper dagegen entwickelt, variiert doch das Eiweiss sogar von Frau zu Frau in Abhängigkeit zu ihrer Blutgruppe. (2)

Eine ausschliessliche Ernährung mit Ziegenmilch kann zu einer "Kugelzell-Anämie" führen, die der Vitamin B-12-Mangel-Blutarmut ähnlich ist. (7)

Das Milchzuckerproblem besteht bei allen Milcharten, am ausgeprägtesten jedoch bei der Pferdemilch mit der meisten Lactose. (zu beachten bei der als Heilmittel gepriesenen Stutenmilch)

Der Fettanteil ist bei der Schafmilch am grössten und dürfte solchen mit

Leber/Galleproblemen oder mit Glycosyl-Ceramidase-Mangel (dem Enzym, das das Fett im Dünndarm spaltet) (5) mehr Schwierigkeiten bereiten.

 

 

Artfremde Milchproteine

 

Der Mensch als Alles(fr)esser ist grundsätzlich dazu befähigt, alle in der Natur verfügbaren  Nährstoffe der Erde zu sich zu nehmen und zu verwerten, also auch artfremdes Eiweiss. (1)

Hier muss allerdings bedacht werden, dass diese Ausgangssituation für die Menschen unter idealen, natürlichen Bedingungen gilt (ohne Fabriken und alle möglichen mechanischen, thermischen und chemischen Tricks), und auch nur für die frei zugänglichen, naturbelassenen Nahrungsmittel, und dies gleichbleibend seit Millionen von Jahren. Unsere Milchkultur ist jedoch erst etwa 10 000 Jahre alt, d.h. erst seit es Ackerbau und Viehzucht gibt, hat der Mensch Zugang zu artfremder Milch.

Eine wirkliche enzymatische Anpassung an die 20 verschiedenen Kuhmilch-Proteine ist in dieser relativ kurzen Zeit kaum möglich und noch nirgends biochemisch belegt. (16)

Ausserdem setzt der Abbau eines so komplizierten Nahrungsmittels einen voll funktionsfähigen Verdauungsapparat und ein gesundes Immunsystem voraus. Und beides ist in unserer industriell-zivilisierten Gesellschaft immer weniger gegeben.

 

Proteine sind als relativ komplexe Molekülketten an sich schon am schwersten verdaulich. (Sie bleiben z.B. 1-2 Std. im Magen, während die Zucker der Früchte den Magen nicht brauchen, ihn so schnell als möglich passieren sollen und nach wenigen Minuten als Glucose im Blut sind.) Die meisten Allergien sind demnach, bedingt durch die Schwierigkeit der Verdauung, also Ueberempfindlichkeiten auf Proteine. Und der Spitzenreiter der Allergenlisten ist die Kuhmilch. Dafür gibt es verschiedene Gründe:

 

Vorab wird auf der ganzen Welt von allen Tiermilchen am meisten Kuhmilch (in allen Verarbeitungsformen) konsumiert. Bis vor 50 Jahren und besonders in früheren Jahrhunderten starben die meisten tiermilchempfindlichen Säuglinge, die nicht genug Muttermilch bekamen, während sie heute dank der fortgeschrittenen Medizin (als Allergiker) überleben. Zudem hat sich die ganze Umwelt mit ihren Schadstoffen und der unnatürlichen Lebensweise der Industriegesellschaft wesentlich verändert.

Dabei wirkt sich besonders die Ernährung der schwangeren und stillenden Mütter am stärksten aus: mehr als 40 kg Zucker im Jahr, sehr viel tierisches Protein, immer mehr Fertig- und Halbfertigprodukte, hinzu kommen oft noch die sozial akzeptierten Suchtmittel (Kaffee, Alkohol, Zigaretten)  und die Umweltgifte. Immer weniger wird so gegessen, wie es in der Natur vorkommt, und auch die Naturprodukte sind kaum mehr in optimalem Zustand. Dadurch enthält auch die Muttermilch so viele Schadstoffe und Antigene, dass selbst sie nicht mehr immer problemlos ist.

 

Bei Allergien gelangen unvollständig gespaltene, von uns nicht richtig verdaute Moleküle als Störfaktoren, ja eigentliche Gifte,  durch die undichte Darmschranke in die Blutbahn und/oder in die Lymphe, statt dass sie durch den Darm nach aussen befördert werden. Mit dem Blut ist jedoch der Zugang frei zu sämtlichen Organen und Zellen des Körpers, und die störenden Moleküle können dort den je ent-sprechenden Schaden anrichten. (Diejenigen, die bis in den Zellkern vordringen, z.B., nennen wir "kanzerogen".

Die Lymphe staut sich, d.h. die Lymphknoten schwellen an: vergrösserte Mandeln, unnormale Pausbacken, verengte Nasengänge etc.)(3, M. Bruker, A. Calatin)

Oft stellen wir fest, dass Kuhmilchallergiker Ziegen- oder Schafmilch "vertragen", d.h. die bisher bekannten allergischen Symptome treten nicht oder erst später auf. Hätte man das Baby aber von Anfang an mit dieser Milch gefüttert, wäre es wohl auf diese  empfindlich geworden. Die allergische Reaktion ist eine Leistung des Abwehrsystems, die Zeit braucht und eine gewisse Reife. (Siehe Frühgeburten)

 

Es gibt also zwei Arten, mit Unverträglichkeiten umzugehen: die "Allergie" (mit Antikörpern im Blut) oder die "Pseudoallergie" (ohne Antikörper aber mit denselben Symptomen wie die richtige Allergie) und demgegenüber die "Toleranz".

Egal, ob das Unverträgliche eigentlich gesund wäre oder nicht, ist die Toleranz die angenehmere aber nicht in jedem Fall die gesündere Form. Die Allergie oder Pseudoallergie ist eine vehemente Gegenreaktion oder gar eine Ueberreaktion des Immunsystems, die im Extremfall tödlich verlaufen kann, wenn sie nicht gebremst wird. Aber sie signalisiert jedenfalls deutlich, dass da etwas ist, was der Körper absolut nicht will.

Bei einem Nahrungsmittel ist dies noch verständlich und vermeidbar, bei Hausstaubmilbenkot fragen wir uns hingegen, warum dieser, nachdem er so lange als harmlos und unauffällig hingenommen wurde, plötzlich aggressiv sein soll. Mit Sicherheit ist diese Empfindlichkeit ein Zeichen eines überreizten Immunsystems. Wo es also durch schwere Störfaktoren übersensibilisiert ist, so dass es auf alle Nebensächlichkeiten wie Pollen, Tierhaare, Nebel etc. voll anspringt, muss man ihm helfen, sich zu beruhigen. Hier ist es nun sinnvoll, den Organismus auf solche unumgänglichen Allergene weniger sensibel zu machen, zu "desensibilisieren", d.h. eine Toleranz zu erreichen.

 

Ob die Kuhmilch jedoch unumgänglich, d.h. lebensnotwendig ist für Kleinkinder, muss man sich in einem Milchland wie der Schweiz ernsthaft fragen. Einem Organismus die Gegenreaktion auf etwas mit Hilfe einer Desensibilisierung wegzutrainieren, bedeutet, dass er sich gegenüber einem "Feind" freundlich, tolerant, anständig verhalten lernt, so tut, als ob nichts wäre, und das Unvermeidliche einsteckt, sich anders arrangiert.

So verstanden darf nicht unbedacht ins Blaue hinaus desensibilisiert werden.

Dabei müssen zuerst die Haupt-Allergene gemieden und behandelt werden und erst dann die kleinen "Mitläufer" dazu. Von den Haupt-Allergenen dürfen dem Organismus auch nach der Desensibilisierung weiterhin bloss kleine Beigaben  zugemutet werden. Diese sollen jedoch nicht allmählich wieder zu tragenden Säulen der Ernährung werden. So verstanden ist auch eine Desensibilisierung auf Milch zu verantworten, ohne spätere schwere Schäden befürchten zu müssen (Rheuma, Entzündungen, Tumoren). Aber es entsteht dann wenigstens nicht jedesmal eine schwere allergische Krise, wenn irgendwo ein bisschen Milchprotein in einer Speise vorgekommen ist.

 

Die Erfahrung des AEV hat gezeigt, dass alle anderen Allergien erst zu beheben sind, wenn die Haupt-Allergene (z.B. Milch, Weizen) aus dem Spiel sind, d.h. gemieden und desensibilisiert.

 

Erst nach dem zweiten Weltkrieg war es überhaupt möglich, in grösserem Umfang Säuglinge mit Kuhmilch aufzuziehen. Früher starben die meisten, wenn sie keine Frauenmilch bekamen. Der Japaner Oski (2) nennt die Fütterung mit Kuhmilch-Präparaten "die grösste unkontrollierte Arzneimittelstudie der Menschheit". Dies war nur möglich, indem die Kuhmilch immer mehr der Menschenmilch angeglichen, (scheinbar) "adaptiert" wurde:

- Zuerst wurde Kuhmilch nur verdünnt mit Wasser, um die Mineralstoffkonzentration zu verringern. (Kuhmilch enthält etwa viermal soviel Mineralien (Phosphor, Kalzium, Magnesium, Kalium) wie Menschenmilch, was zu schweren Nierenschäden führen würde, blieben nicht 2/3 der Mineralstoffe an der Darmwand blockiert. Daraus ergeben sich dann die Kalziummängel der Kuhmilch-Säuglinge.(6)

- Dann wurde das Verhältnis der Hauptbestandteile (Proteine, Lactose, Fett) dem der Frauenmilch angeglichen

- Weiter versuchte man das Kasein zugunsten des Molkeanteils reduzieren und gewisse besonders allergene Proteinteile wie Rinderserumalbumin (BSA) zu minimalisieren.

- Man nahm von den 20 Proteinen der Kuhmilch die 6 "gefährlichsten" heraus. (16)

- Zudem reduzierte man den Phosphorgehalt und reicherte sie mit den Vitamin A und E an, von denen Menschenmilch viel mehr enthält.     

Sehr viel Mühe hat sich u.a. Nestlé mit ihrer hypoallergenen "Nidina HA" gegeben: Sie enthält enzymatisch hydrolisiertes Molkepulver (statt Casein), Pflanzenöle statt Milchfett, Maltodextrin, um einen Lactasemangel zu umgehen, 12 Vitamine, Taurin (gallensäureähnlich) wie die Menschenmilch und ist glutenfrei (ohne Getreideklebereiweiss). Was kann man noch mehr tun?

 

Was aber immer ein Problem bleibt bei der Herstellung eines solchen Nahrungsmittels, ist die Veränderung, Erhitzung und Konservierung der Proteine. Auch die restlichen ca. 14 Proteine sind noch nicht menschliche Proteine.  Die Natur ist nicht einfach nachzuahmen, auch wenn dies vor 50 Jahren im Zuge einer forcierten Frauenemanzipation in Reichweite schien.

 

Müller (2) hat die immunologische Reaktion auf Kuhmilch in den ersten zwei Lebensjahren an 540 gesunden Kindern studiert. Ein gesundes Abwehrsystem produziert im Laufe von Tagen oder Wochen Antikörper der IgG-Klasse auf artfremdes Eiweiss, besonders auf Casein und BGG (Rinder-Gammaglobulin): Im Laufe ihres ersten Lebensjahres waren alle mit Kuhmilch-Proteinen in Kontakt gekommen, wobei die gestillten Kinder weniger Antikörper bildeten und den Höhepunkt auch, wie die nicht gestillten, mit etwa 12 Monaten hatten. Bloss die Frühgburten (vor der 36. Schwangerschaftswoche) und solche mit Immundefekten bildeten 6 Mte. lang keine Antikörper. Waren sie dazu (noch) gar nicht in der Lage? Wie schwer müssen die späteren Folgen bei ihnen sein, wenn die reifere Reaktion eine Abwehr wäre? (S. St.) Mit der Gewöhnung nimmt die Zahl der Antikörper dann mehr und mehr ab, bis nur noch 30% der gesunden Erwachsenen solche in ihrem Blut zirkulieren haben. Die andern haben eine sog. "Toleranz" entwickelt. Bis ein Mensch dahin gelangt, ist offenbar ein langer Weg, und man muss sich immer fragen, ob das Ziel überhaupt anzustreben ist.

 

Die Immunreaktion von kranken Kindern zeigt ein anderes Antikörperbild: Müller unterscheidet hier "Sofortreaktionen" (Typ-I-Allergie) von " verzögerten Reaktionen" (Typ-III-Allergie).

Die Sofortreaktionen sind - Hautausschläge und -geschwülste (Urticaria, Angio-ödeme), "Schorf"  verstopfte Bronchien, asthmatische Erscheinungen -(Bronchus-obstruktionen) angeschwollene Lymphknoten, z.B. Mandeln (3) generalisierte Schockreaktion mit Herz-Kreislaufversagen (Anaphylaxie) als Extremfall auch der "Frühe Kindstod" wird unter die allergischen Sofortreaktionen gezählt. (2)

 

Werthmann nennt all diese Erscheinungen "Vikarisation" der Darmstörung auf Haut, Lunge oder lymphatisches Gewebe. Diese Blutproben -zeigen viele IgE, als Ver-mittler der allergischen Reaktion, Histamin-Ausschüttung und wenig IgG. Die Anzahl Rinderserum-Albumin-Antigene (BSA) ist meist normal und gibt daher keinen Aufschluss über eine Allergie.

 

Mit einer Form der Typ-l-Allergie reagieren auch empfindliche ge-stillte Säuglinge auf die Milch ihrer allergischen Mütter: Die Antigene der Kuhmilch gelangen durch die gestörte Darmschleimhaut der Mutter in die

Blutbahn und von da aus in die Brust und Milch. In diesem Fall lassen sich das B-Lactoglobulin und ebenso das Rinderserumalbumin (BSA) auch in der Muttermilch nachweisen. (12), (2)  Bei diesen Säuglingen treten dann die gleichen Abwehrreaktionen wie bei Kuhmilchernährung auf: IgE-Antikörper, Ausschüttung von Histamin, angeschwollene Schleimhäute, Darmkoliken. (2), (1)

 

Die verzögerten Reaktionen zeigen sich in Form von chronischen Gedeihstörungen. Diese Kinder nehmen nicht zu, weil sie die Nahrung mit ihren zerstörten Darmzotten nicht aufnehmen können. Bei Karenz (Weglassen) des Allergens (in diesem Fall des unverträglichen Rinder-Eiweisses), kann der Darm jedoch wieder vollständig gesunden. Diese Patienten zeigen keine erhöhten IgE-Antikörper, dafür mehr IgG.

Werthmann (3) erwähnt auch die psychisch-geistigen Auswirkungen und

nennt sie "zerebrale Allergie". Auch van de Kamer beschreibt die Symptome, ohne diesen Ausdruck zu gebrauchen: Der zerstörte Bürstensaum der Darmschleimhaut macht diese durchlässig für Gifte, die Nerven und/oder

Schilddrüse reizen - eine Art Selbstvergiftung durch "Neurotoxine" (Nervengifte), die zu gestörter Hirnfunktion und geringerer Belastbarkeit führen: Konzentrationsstörungen, Wahrnehmungsstörungen, Gereiztheit, Verstimmungen, motorische Unruhe.(!)

 

Schluss

 

Der Genuss von Kuhmilch beinhaltet also hauptsächlich die beiden Problemkreise Eiweiss und Milchzucker.

Weit häufiger als bis vor kurzem in der Literatur dargestellt, ist die Protein-Verträglichkeit das Hauptproblem, und die Lactose kommt bei einer verschwindend kleinen Minderheit allein vor oder wohl öfter zur Milcheiweiss-Empfindlichkeit hinzu.

Das Eiweissproblem stellt sich für alle Tiermilch und alle Tiermilchprodukte, - für die eigentlichen Milcheiweiss-Allergiker sogar auch mit Rahm und Butter, wo nur noch ganz wenig Eiweiss enthalten ist.

Die Verarbeitung zu Käse vollzieht lediglich die Gerinnung  (Ausfällung des Caseins), was sonst im Magen erledigt wird; die anderen Proteine und allfällige Antigene bleiben jedoch unverändert. (1) Molke ergibt sich als

"Abfallprodukt" beim Käsen und wurde früher meist den Schweinen verfüttert. Sie enthält viel Lactose, das Milchserum  mit Mineralsalzen, Vitaminen und wenig Protein, jedoch mit allen möglichen Antigenen. "Rivella" ist ein Produkt aus Milchserum und wird deshalb von Lactose-Empfindlichen und Allergikern schlecht vertragen.

 

Anders sieht es mit dem Lactose-Anteil aus, obwohl hier die allergischen Reaktionen etwa gleich aussehen wie bei der Milchprotein-Empfindlichkeit (Darm: anfangs Durchfall, Haut: Ekzeme, Schleimhäute: Reizungen, Entzündungen in Nase, Bronchien etc.)

Dem Rückgang der Lactase haben die Viehzucht-Kulturen offenbar viel besser Rechnung tragen können als der früher meist unterschätzten und verkannten Eiweiss-Unverträglichkeit (auf deren Auswirkung zwar Hippokrates schon hingewiesen hat.) Verständlich wird diese Verkennung der Priorität der Proteine durch die verschleierten und verspäteten Reaktionen der Milchtoleranten und die erst kürzliche rasante Zunahme der Milchintoleranten, d.h. der Allergiker. Bei Käse, Joghurt, Sauermilch, Sauerrahm usw. wird die Lactose durch irgendwelche Bakterien oder Pilze gespalten und verliert damit ihre Problematik.

Denken Sie jedoch bei allen milchzuckerhaltigen Medikamenten in grösseren Mengen an die Möglichkeit einer ungenügenden Lactase-Aktivität. (Milchzucker wird oft als Träger verwendet, bes. bei homöopathischen Globuli sowie für Placebo-Tabletten bei den meisten Studien.) Extrem Milchzucker-Intolerante vertragen auch Süssrahm und Butter nicht. Umgekehrt bleiben Butter und Rahm (wie in unseren Richtlinien) - mit Vorbehalt - die unverfänglichsten Milchprodukte, weil Butter hauptsächlich aus Milchfett besteht, und Rahm, auch hauptsächlich Milchfett, (hoffentlich) in viel kleineren Mengen konsumiert wird als Milch. So fallen beide, Proteine und Lactose, kaum mehr ins Gewicht.

Achtung: für Allergiker jedoch sehr wohl!

 

Wir haben uns mit dem Kennenlernen der Milch in ein sehr komplexes, und ausserdem psychologisch und wirtschaftlich brisantes Gebiet gewagt. Ich hoffe, dass wir dank einem besseren Verständnis in Zukunft mit diesem Produkt zu unserem Wohl umgehen lernen.

 

Verdankungen und Literatur:

 

Vorab möchte ich hier den Professoren Drs. Sick und Barth vom Deutschen Milch-forschungsinstitut in Kiel für die eingehende und schnelle Beantwortung meiner Fragen, sowie Christoph Preuss, cand. med., für die Korrekturen und Ergänzungen des Manuskripts ganz herzlich danken.

 

1) Sick H./ Barth C.A.,Profs.: Persönliche Beantwortung meiner ---Fragen im Hinblick auf diese Publikation. Bundesanstalt für Milchforschung, Institut für Physiologie und Biochemie der Ernährung.            Kiel 1991

2) Müller Wolfgang: Milchantikörper im Kindesalter, Thieme Stuttgart/New York 1988

3) Werthmann Konrad: Kinderallergien - Erkennen und Behandeln -durch individuelle Diät, Joh. Sonntag Verlagsbuchhandlung, Regensburg 1989

4) van de Kamer J.H./Weijers H.A. Utrecht: Intestinale Absorption und Malabsorption. Internat. Preis f. mod. Ernährung, E. Rossi, Bern, Panscientia Hedingen/Zürich 1988

5) Semenza Giorgio: Verdauung der Milch. Rede zur Verleihung des Preises für moderne Ernährung, Herausg. E. Rossi, Bern, Zentralverband schweiz. Milchproduzenten, Bern, Panscientia Verlag  Hedingen/Zürich 1988

6) Elmadfa Ibrahim/Leitzmann Claus: Ernährung des Menschen, Ulmer, Stuttgart 1990

7) Preuss Christoph: Milchfettkugelmembranen verschiedener Tierarten. Med. Dissertationsschrift , Uni München, im Druck 1991

8) Sigg Claudia, Dr. med. Tropenärztin/Internistin: mündliche Mitteilung 1991

9) Retz H.-A.: Grundriss der Ernährungslehre, Steinkopf 1978/9O

10) Mc. Laren D.S. Burman D. (ed.): Textbook of paediatric nutrition. Churchill Livingstone, Edinburgh 1982 2nd ed.

11) Foman S.J.: Infant nutrition, Saunders, Philadelphia 1974, 2nd ed.

12) Hochreutener Helen, Dr. med.: Vortrag an der Arbeitstagung "Ernährung und Verhalten", Luzern 1989

13) Arens U., Günther B.: Ernährungslehre, Schroedel Schulbuch-Verlag 1982

14) Bässler, Fekl, Lanz: Grundbegriffe der Ernährungslehre, Springer 1987

15) Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, de Gruyter Berlin /New   York

16) Burger Guy Claude: Die Rohkosttherapie, Heyne Ratgeber 9168 1985

 

Nachtrag Herbst 1994:

 

In der Zwischenzeit haben wir erkannt, dass die Tiermilch-Proteine das weit häufi-gere Problem darstellen, als dies bei der Lactose der Fall zu sein schien. Letztere ist einigermassen leicht in den Griff zu bekommen, indem man die Milch "vorverdaut", d.h. angesäuert isst. Ja es besteht sogar der Verdacht, dass die Aufmerksamkeit der Oeffentlichkeit vor einigen Jahren absichtlich auf die Lactose gelenkt wurde, um die Milchwirtschaft zu schonen. Die Proteine können jedoch für den Abbau im Magen und Darm nicht vorbehandelt werden, ja sie sind sogar durch die Erhitzung bei Joghurt und Käse etc. noch schwerer verdaulich. Da kann man sich fragen, ob die Erzielung einer Toleranz überhaupt erstrebenswert ist, oder ob die Milchallergiker mit ihrer unangenehmen aber deutlichen Reaktion am Ende die Gesünderen sind, ähnlich wie die reiferen Neugeborenen gegenüber den Frühgeburten.

Die Erfahrung der Desensibilisierung irgendwelcher Allergene (Hausstaub, Pollen, Gräser, harmlose, naturbelassene Nahrungsmittel, etc.). hat gezeigt, dass sie meist erst zu behandeln sind oder gar von selbst wegfallen, wenn die Milchallergie beseitigt ist.

Ich empfehle daher allen Allergikern, bei der Milch und ihren Produkten zu beginnen.