Diät bei AD(H)S – alles kalter Kaffee?

 

Wenn man den „Kaffee“ nur unter der Marke „Phosphatdiät“ trinkt, ist er „kalt“, d.h. „out“, und auch bitter, da erwiesenermassen nicht wirksam.

 

Der folgende Artikel soll aufzeigen, dass eine Ernährungsumstellung, sofern richtig indiziert und konsequent durchgeführt, einigen ADHS-Kindern eine Erleichterung der Symptomatik bringen kann.

 

Historisches zu Diäten gegen Verhaltensauffälligkeiten

Was bereits Mitte des 20. Jahrhunderts durch einzelne Beobachtungen in USA seinen Anfang nahm, wurde mit den Studien von Dr. J. Feingold[1], der eine Verhaltensverbesserung der hyperaktiven Kinder durch eine Zusatzstoff-freie Nahrung feststellte, zu einer stärkeren Bewegung. In den 80-er Jahren folgte die Theorie der Phosphatdiät, in der die Apothekerin Hertha Hafer[2] hinter den Nahrungsmittel-Empfindlichkeiten bei überaktiven Kindern eine Phosphat-„Vergiftung“ vermutete, und durch das Weglassen der entsprechenden Nahrungsmittel im praktischen Alltag auch deutliche Verhaltensverbesserungen erzielen konnte. Diese Theorie wurde jedoch in diversen Studien widerlegt.

Erst in den Studien von Dr. J. Egger[3] konnte mit der „oligoantigenen Diät“ auch wissenschaftlich die Wirksamkeit einer Eliminationsdiät bewiesen und seither wiederholt bestätigt werden[4].

 

Oligoantigene Diät: Theorie und praktische Durchführung

Die Theorie der oligoantigenen Diät stützt sich auf die Beobachtung, dass die Eliminationsdiät individuell angepasst werden muss, da jedes Kind individuelle Unverträglichkeiten auf bestimmte Nahrungsmittel zeigt.

In einer Testphase bekommen alle hyperaktiven Kinder eine oligoantigene Standarddiät, d.h. es werden für 2 – 4 Wochen nur Nahrungsmittel zugelassen, welche erfahrungsgemäss selten negative Symptome auslösen (Tab. s. unten). Verbessert sich dann innerhalb dieser Testphase das Verhalten des Kindes so ausgeprägt, dass sich für die betroffene Familie und das Kind der Aufwand der Diät lohnt, werden die weggelassenen Nahrungsmittel einzeln wieder zugeführt (max. alle 3 Tage ein neues Nahrungsmittel) und je nach Effekt in den Speiseplan integriert oder definitiv weggelassen.

Komplizierend wirkt sich dabei aus, dass die negative Reaktion auf bestimmte Nahrungsmittel u.U. erst am folgenden Tag auftritt oder auch bis zu 3 Tage anhalten kann. Es braucht also für die Testphase eine maximale Compliance sowohl der Familie als auch des Kindes, sonst stellt sich bei einer „Ausnahme alle 3 Tage“ unter Umständen gar nie ein Grundzustand ohne Symptome ein. Auch die Verbesserung auf die Eliminationsdiät ist zeitlich unterschiedlich und dauert von 3 Tagen bei hyperaktiven Kleinkindern bis zu 3 Monaten bei reinen Aufmerksamkeitsdefiziten bei Jugendlichen. Entsprechend schwierig gestaltet sich beim reinen ADS auch die Testphase, worüber die betroffenen Familien vor Beginn der Diät aufgeklärt werden müssen.

Erstaunlicherweise sind vorpubertäre Kinder oft sehr gut zu einem – zeitlich begrenzten – Diät-Experiment bereit, wenn sie in den Entscheidungsprozess einbezogen werden und allenfalls das Durchhalten auch durch eine vereinbarte Belohnung unterstützt wird. Über die weitere Durchführung der Diät nach der Testphase entscheidet wiederum die Familie als Ganzes, also auch das Kind.

 

Erlaubte Nahrungsmittel während der Testphase

 

Lamm, Poulet (od. Truthahn),

Mandeln, Mandelpürree

weisser Reis, Kartoffeln, Hirseflocken

Bananen, Birnen

Broccoli, Fenchel, Karotten, Kohlrabi, grüner Salat

 

Sonnenblumen-, Raps- oder Olivenöl, Apfelessig

Wasser, Lindenblüten-, Zitronenmelissentee

Salz, Kräuter frisch oder getrocknet, Zwiebeln

 

Supplementation: Ab 4 Wochen milchfreie Diät: ½ Teelöffel Calciumascorbat in wenig Birnensaft aufgelöst

Theorien hinter den Nahrungsmittelunverträglichkeiten

Es gibt verschiedene Erklärungsversuche, weshalb einzelne harmlose Nahrungsmittel, welche von den meisten Menschen problemlos und in grosser Menge konsumiert werden, bei AD(H)S-Kindern massivste Verhaltenssymptome auslösen können. Leider fehlen bisher Studien, welche diese Mechanismen effektiv beweisen.

Die verschiedenen Möglichkeiten werden nun einzeln erläutert:

a)      Störung der Hirnfunktion im Sinne einer „allergischen“ oder pseudoallergischen Reaktion des Gehirns auf das zugeführte Nahrungsmittel

Wahrscheinlich sind es meist keine Allergien im klassischen „allergologischen“ Sinn (Coombs-Typ 1-4), sondern Unverträglichkeiten, deren pseudoallergischer Pathomechanismus nicht bekannt ist.

b)      abnorme Empfindlichkeit des Gehirns mit entsprechender Fehlfunktion auf Neurotransmitter-ähnliche Nahrungsmittelbestandteile, wie z.B. Exorphine.

Exorphine sind Peptid-Fragmente, d.h. Abbauprodukte von Nahrungsmittelproteinen, mit einer Opiat-ähnlichen Wirkung. Experimentell zeigt sich dies durch Bindung an die Opiat-Rezeptoren, bzw. durch die Aufhebung ihrer Wirkung (=Antagonisierbarkeit) durch das Opiat-Gegenmittel Naloxon.

Sie stammen als Verdauungsprodukte aus diversen Nahrungsmittel-Proteinen wie Weizen (Gluten), Milch (alpha- und beta-Casein, alpha- und beta-Lactalbumin, k-Casein, Lactoferrin[5]) oder Kaffee[6]. Die bioaktiven Sequenzen sind in einem inaktiven Stadium verborgen innerhalb der Polypeptidkette des grösseren Proteins und werden erst während der Verdauung freigesetzt.

Durch ihre Bindung an Rezeptoren im Darminnern tragen sie (sozusagen als Nahrungs-Hormone) zur Regulation der Verdauungstätigkeit und der Körperhormone bei. Wenn Exorphine ins Blut gelangen können, ist ein (negativer) Effekt auch auf Opiatrezeptoren im Gehirn denkbar, wie dies von einigen Forschern für gewisse Arten von Schizophrenien (Modell der genetisch determinierten vermehrten Passage der Exorphine durch die Darmschleimhaut ins Blut und des verminderten Abbaus bei allfälligem Enzymdefekt[7]) bzw. bei gewissen Autisten mit ihrer vermehrten Peptidurie[8] vermutet wird.

 

c)      Chronische Störung der Hirnstoffwechsels durch eine Unterversorgung mit bestimmten Vitaminen und Mineralstoffen

Es ist denkbar, dass die Absorption bestimmter Vitamine und Mineralstoffe bei gewissen Menschen durch verminderte Enzymaktivität oder Transportproteine in der Darmschleimhaut reduziert ist, so dass sie nicht in geeignetem Mass für die Produktion der Neurotransmitter bzw. Regeneration von Nervenzellen etc. zur Verfügung stehen. Würden diese Defizite durch Supplementa ausgeglichen, wäre eine verbesserte Hirnleistung sichtbar.

Zu diesem Thema wurde mit freundlicher Unterstützung der Elternorganisation ELPOS Schweiz im Jahr 2005 eine kleine Doppelblindstudie durchgeführt. 13 AD(H)S-Kinder erhielten während je zwei Monaten zuerst ein Multivitaminpräparat, Mineralstoffe und Omega3-Fettsäuren oder Placebo, dann wurde gewechselt. Erfreulicherweise zeigten sich in der Supplementierungsphase gemäss Elternangaben statistisch signifikante Verhaltensverbesserungen. Allerdings war die Verblindung der Probanden nicht vollständig gewährleistet, so dass der Placeboeffekt bei den Resultaten wahrscheinlich auch mitgespielt hat. Entsprechend wären grösser angelegte Studien willkommen, um die Frage nach dem effektiven Nutzen wirklich zu klären. Bis dann lohnt sich ein Therapieversuch über 2 – 3 Monate allemal, da die kommerziell erhältlichen Supplementa keine Nebenwirkungen zeigen.

d)      akute Schwankungen der Nährstoffversorgung bzw. des biochemischen Milieus im Gehirn (z.B. Blutzuckerschwankungen)

Möglicherweise fehlen den empfindlichen ADS-Kindern Kompensationsreserven, um trotz Veränderungen des biochemischen Milieus noch „ausgeglichen“ punkto Hirnleistung reagieren zu können.

Aus Elternberichten ist zum Beispiel die Verhaltensverschlechterung nach Hallenbadbesuch („Chlorwasser“) bekannt und viele Hyperaktive reagieren empfindlich auf grössere Mengen von Zucker (v.a. Saccharose, aber gelegentlich auch auf Stärkeprodukte mit hohem glykämischem Index), indem sie zappelig werden. Umgekehrt lässt präprandial die Konzentrationsfähigkeit nach und erhöht sich die Impulsivität / Aggressionsbereitschaft.

 

e)      veränderte Darmschleimhautfunktion und Darmflora

Eine beeinträchtigte Schleimhautbarriere und Verdauungsfunktion im Darm vermindert die Absorption von Nährstoffen, so dass essentielle Nährstoffe fehlen, bzw. verstärkt die Aufnahme von Giftstoffen in den Blutkreislauf, da der Darm toxische und mikrobielle Umweltgifte schlechter „los wird“ dafür das übrige Entgiftungssystem des Körpers (z.B. Leber) mit unnötigem „Gift“ belastet wird, das u.U. sogar die Hirnfunktion stört. Eine Dysbalance der bakteriellen Darmflora führt zur vermehrten Bildung von toxischen (z.B. Fuselalkohole) und verminderten Produktion von stoffwechsel- und immunsystem-unterstützenden mikrobiellen Stoffwechselprodukten. Dadurch neigt der Organismus zu „banalen“ Infekten z.B. im Hals-Nasen-Ohrenbereich und Nährstoffe können durch die verminderte Enzymfunktion schlechter aufgenommen werden.

 

 

Zum interessanten Thema, wie Nahrungsmittel und andere chemische Stoffe aus unserer unmittelbaren Umwelt die Hirnfunktion beeinflussen, sollte und kann noch viel geforscht werden. In der Zwischenzeit bleibt uns als Betreuende der betroffenen Menschen, mit wachen Augen und warmem Herzen den Patienten alle verschiedenen Möglichkeiten der Behandlung zu zeigen und sie auf ihrem individuell gewählten Weg zu begleiten.

 

Dr. med. Eveline Breidenstein

FMH Allgemeinmedizin

Affolternstr. 21

CH-8913 Ottenbach

eveline.breidenstein@bluewin.ch



[1] Feingold B.F. (1975) Hyperkinesis and learning disabilities linked to artificial food flavours and colors. Am. J. Nurs.; 75: 797-803

[2] Hafer H. (Hrsg.) (1978) Nahrungsphosphat - die heimliche Droge. Kriminalistikverlag Heidelberg, 1. Auflage

[3] Egger J., Carter C.M., Graham P.J., Gumley D., Soothill J.F. (1985) Controlled trial of oligoantigenic treatment in the hyperactive syndrome; Lancet; 1: 540-545

[4] Kaplan B.J., McNicol J., Conte R.A., Moghadam H.K. (1989) Dietary replacement in preschool-aged hyperactive boys. Pediatrics; 83 (1): 7-17

Carter C.M., Urbanowicz M., Hemsley R., Mantilla L., Strobel S., Graham P.J., Taylor E. (1993) Effects of a few food diet in attention deficit disorder. Arch. Dis. Child. 69 (5): 564-8

Boris M., Mandel F.S. (1994) Foods and additives are common causes of the attention deficit hyperactive disorder in children. Ann. Allergy; 72.: 462-8

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Schulte-Korne G., Deimel W., Gutenbrunner C., Hennighausen K., Blank R., Rieger C., Remschmidt H. (1996) Der Einfluss einer oligoantigenen Diät auf das Verhalten von hyperkinetischen Kindern. Z. Kinder Jugenpsychiatr. Psychother. 24 (3): 1976-83

Schmidt M.H., Mocks P., Lay B., Eisert H.G., Fojkar R., Fritz-Sigmund D., Marcus A., Musaeus B. (1997) Does oligoantigenic diet inflence hyperactive/ conduct-disorderes children - a controlled trial. Eur. Child. Adolesc. Psychiatry; 6 (2): 88-95

[5] Meisel H., Frister H., Schlimme E. (1989) Biologicallx active peptides in milk proteins. Z. Ernahrungswiss.; 28: 267-78

[6] Boublik J.H. et al. (1983) Coffee contains potent opiate receptor binding activity. Nature; 301: 246-8

[7] Dohan F.C. (1988) Genetic hypothesis of idiopathic schizophrenia: its exorphin connection. Schizophr. bull.;14: 489-94

[8] Reichelt K.L. (1994) Biochemistry and psychophysiology of autistic syndromes. Tidsskr. Nor. Laegeforen.; 114: 1432-4