Lebensmittelzusatzstoffe und hyperaktives Verhalten bei dreijährigen und 8-9 jährigen Kindern aus der Allgemeinbevölkerung: Eine randomisierte doppelblinde placebokontrollierte Studie

 

Food additives and hyperacitve behaviour in 3-year-old and 8/9-year-old children in the community: a randomised, double-blinded, placebo-controlled trial

D. McCann et al.; Lancet 2007 (online: DOl: 10.1016/S0140-6736(07)61306-3)

 

Zusammenfassung:

Ein Lebensmittelzusatzstoff-Mix (Farbstoffe und Natriumbenzoat) macht (normale) Kinder im Alter von 3 bzw. 8-9 Jahren leicht hyperaktiver.

 

Methodik:

Die in Southampton, UK, durchgeführte Studie ist methodisch sauber gemacht: Die Kinder wurden aus der Allgemeinbevölkerung rekrutiert (Spielgruppen, Kinderhort bzw. Schulen), wobei darauf geachtet wurde, dass auch sozial benachteiligte Schichten berücksichtigt und von den (nicht-elterlichen) Betreuungspersonen eine Fragebogenerhebung zum allgemeinen Hyperaktivitätslevel der gesamten Stichprobe gefordert wurde.

Bei den an der Studie interessierten Eltern wurde durch Diätassistentinnen die normale Ernährung (letzte 24 Stunden) erfasst und daraus die gewohnte Menge Zusatzstoffe ausgerechnet (Baseline Diät).

Nach einer Woche normaler Ernährung mussten die Kinder während sechs Wochen eine Ernährung ohne die Zusatzstoffe, die in der Studie getestet wurden, einnehmen. In den Wochen 1, 3 und 5 erhielten die Kinder Placebodrinks (Auswaschphasen), in den übrigen Wochen (Testwochen) während 2 Wochen die aktive Substanz (in zwei verschiedenen Mengen) und einer Woche Placebo. Die Reihenfolge während der Testwochen war randomisiert.

Die aktive Substanz enthielt 4 verschiedene Lebensmittelfarbstoffe (E110 sunset yellow, E122 Carmoisine, E102 Tartrazin, E124 Ponceau Rot) sowie den Konservierungsstoff E211 Natriumbenzoat in zwei verschiedenen Mengen pro Altersklasse: Mix A enthielt etwa die Menge Lebensmittelzusatzstoffe, die in zwei Süssigkeitentüten à 56g enthalten sind; Mix B bei den 3-jährigen entsprach auch etwa 2, bei den 8-9-jährigen etwa 4 Süssigkeitentüten.

 

Kritisch anzumerken bleibt, dass der Hyperaktivitätslevel der „Gesamtpopulation“ nirgends erwähnt wird, also unklar bleibt, inwieweit die Studienpopulation wirklich der Ursprungsstichprobe entspricht, und dass beim Versuch, die Studienergebnisse auch auf verschiedene Untergruppen zu untersuchen, die ursprünglich ausgerechnete Anzahl Probanden, für welche die Studie gepowert war, unterschritten wurde. Die aufgeführten Resultate widerspiegeln die gesamte Studienpopulation.

 

Resultate:

Bei den 3-jährigen verschlechterte sich (erstaunlicherweise nur unter der niedriger dosierten Menge signifikant) das Verhalten in Richtung Hyperaktivität um etwa 20% der Scorewerte; bei den 8- bis 9-jährigen signifikant unter der höheren Dosierung um etwa 12%.

Offenbar traten die Verhaltensveränderungen z.T. sehr schnell auf (innerhalb einer Stunde) und waren interindividuell auch sehr stark unterschiedlich.

 

Diskussion:

Die Frage um die negativen Effekte von Lebensmittelzusatzstoffen auf das Verhalten von hyperaktiven Kindern wurde durch die Metaanalyse von Schab und Trinh neu aufgeworfen, indem die früher verworfene Hypothese Feingolds (dass nämlich Lebensmittelzusatzstoffe und natürliche Salicylate das Verhalten hyperaktiver Kinder negativ beeinflussten), nun doch statistisch untermauert werden konnte[1]. Offenbar beeinflussen die Lebensmittelfarbstoffe das motorische System über Dopamin-Wege.

 

Dass Lebensmittelzusatzstoffe in höherer Dosierung (112 g Süssigkeiten für 3-jährige bzw. 220 gr. für 8- bis 9-jährige) allgemein und nicht nur die ohnehin als hyperaktiv bekannten Kinder unruhig machen, ist interessant. Andererseits macht die Verhaltensverschlechterung, die in dieser Studie gefunden wurde, nur etwa 10% des Verhaltensunterschieds eines hyperaktiven zu einem Normalkollektiv aus.

 

Insgesamt sind die Effekte zwar klein, aber lassen doch aufhorchen, wenn man bedenkt, dass Gummibärchen und ähnliches ja „rezeptfrei“, also unkontrolliert, verzehrt werden und niemand weiss, welche anderen chemischen Stoffe aus der Lebensmittel- oder anderen Umwelt diese kleinen Effekte auf lange Sicht allenfalls auch noch verstärken.

Grundsätzlich sollte also der bedenkenlose Einsatz von Lebensmittelzusatzstoffen überdacht und die Auswirkungen auf das Verhalten für die Zulassung neuer Stoffe wie andere Toxizitätswirkungen auch berücksichtigt werden.

 

 

Dr. med. Eveline Breidenstein, 25.10.07



[1] Schab DW, Trinh NT. Do artificial food colours promote hyperactivity in children with hyperactive syndromes? A meta-analysis of double-blinde placebo-controlled trials. J Dev Behav Pediatr 2004; 25; 423-34